Unser täglich Brot
Neulich zeigte mir die Nachbarin ihre neuen Kaninchen. »Sind sie nicht niedlich? Für die Tochter, die wird
sich freuen, wenn sie aus der Schule kommt. Und wenn Sie altes Brot haben - ehe Sie es wegwerfen - das
knabbern die besonders gern.« Ich wurde verlegen: »Tja, ich hab' so was nicht - ich werfe keine
Lebensmittel weg.« Die Frau blickte mich entgeistert an: »Was, Sie werfen keine Lebensmittel weg?« Das
verschlug mir die Sprache. Offensichtlich gibt es eine größere Gruppe von Menschen, für die es zur
selbstverständlichen Lebensweise gehört, Nahrungsmittel wegzuwerfen - so wie man es gewohnt ist, Müll
wegzuwerfen.
»Brot ist heilig«, stammelte ich, »das wirft man nicht weg - hat meine Oma gesagt - man kann es ditschen,
einweichen - und in der Hungerszeit, im Krieg, und vor allem nach dem Krieg - da war uns jedes Stückchen
Brot heilig«. Die Frau setzte ein verständnisvolles Gesicht auf: »Naja, wenn man religiös ist - und im
Krieg, natürlich - doch diese Zeiten sind zum Glück schon lange vorbei.« Und sie blickte ein wenig
herablassend auf mich, zuckte mit der rechten Schulter und drehte sich weg. »Nein, nein, das ist es
nicht!«, wollte ich fast schreien, doch sie war schon im Haus verschwunden. »Nein,« rief ich ihr lautlos
hinterher, »nicht Religion noch Hunger sind der Grund dafür, dass Brot uns heilig ist, sondern weil Brot -
bei uns der Inbegriff von Nahrung überhaupt - unsere Lebensgrundlage ist, die die Natur uns gibt, aus der
wir selbst hervorgegangen sind«!
Eva Lenn
(... bereits in der Zeitung »Leipzigs Neue« unter der Rubrik »Quergedacht von Eva Lenn«
erschienen.)
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